Verspätung...
Eine Bekannte erzählte von einer bemerkenswerten Begebenheit, die sie gelesen habe. Der Lokführer eines ICE hätte in Göttingen einfach vergessen zu halten, und so mussten 80 Reisende außerplanmäßig in Northeim aussteigen und eine Verspätung von fast anderthalb Stunden in Kauf nehmen. Unangenehm, aber eher harmlos gegenüber dem, was ich dieser Tage selbst erlebte.
Ich hatte mich eben in meinem Abteil eingerichtet, als der Zug plötzlich mittels Vollbremsung auf freier Strecke zum Stehen kam. Aufregung unter uns Fahrgästen: was war passiert? Dann über Lautsprecher die nüchterne Auskunft, es läge ein Personenschaden vor. Wann die Fahrt fortgesetzt werden könne, sei unbestimmt. Betroffenheit machte sich breit, hier und da auch Bestürzung. Personenschaden. Vermutlich hatte sich ein Mensch vor unseren Zug geworfen. Einen Aufprall bei einer Geschwindigkeit von etwa 160 kmh überlebt niemand. Es war also ein Todesfall eingetreten, eben, in dieser Minute! Keiner hatte etwas mitbekommen oder gesehen. Wo lag die Person jetzt? Vielleicht direkt unter meinem Platz, zerschmettert? Erstaunlich, dass niemand aufstand. Alle blieben auf ihren Plätzen sitzen. Es wollte wohl niemand den aufgeregt durch die Waggongänge eilenden Zugbegleitern im Wege stehen. Die Situation erinnerte mich ein wenig an vorbeifahrende Rettungsfahrzeuge im Strassenverkehr. Eine zweite Durchsage kam mit dem Hinweis, es könne noch Stunden dauern. Augenblicklich kehrte die Geschäftigkeit zurück. Viele waren auf dem Weg zur Arbeit oder hatten Termine wahrzunehmen. Das Handy macht es möglich: es wurde fortan viel telefoniert. Ich selbst war davon nicht betroffen. Und so gingen meine Gedanken in Richtung des Unglücklichen. In welchen Nöten wird dieser Mensch gesteckt haben, die zu solch einer Verzweiflungstat führen? Jeden Tag sterben hunderte Menschen, viele davon durch Selbsttötung. Die Gründe für ihr Handeln sind so unterschiedlich wie die Menschen selbst. Ein Hubschrauber kreiste über dem Zug. Es war schwierig für die Rettungskräfte, mitten in der Walachei an den Unglücksort zu kommen. Rettungskräfte? Gab es denn noch Hoffnung auf Rettung? Meine Gedanken wanderten zurück zu der Person, die durch ihre ultimative Handlungsweise zum Personenschaden geworden war. Die mich und die Insassen eines gesamten ICE für einen Moment zum Innehalten, zu Nachdenklichkeit gezwungen hat, in unser hektischen, betriebsamen und geschäftigen Zeit.
Drei Stunden später zog uns eine Ersatzlok in den Ausgangsbahnhof zurück. Durch das lange Warten und die Ungewissheit, wann und wie es weitergehen würde, waren viele Fahrgäste angespannt. Alle mussten auf Ersatzzüge ausweichen, umdisponieren, die enorme Verspätung auffangen. Auf der Fahrt zu meinem Zielbahnhof über eine Ausweichstrecke kam ich mit einer Schaffnerin ins Gespräch. Dies sei bereits der zweite Vorfall in dieser Woche, vor Weihnachten steige die Zahl immer an. Der Betriebsablauf sei danach für viele Stunden unterbrochen, besonders auf den Hauptstrecken. Reisende müssten Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen. Sie selbst und viele Kollegen hätten eigentlich schon vor Stunden Feierabend gehabt. Doch mehr noch beschäftigte sie die Frage: Wie es wohl dem Lokführer geht? Welchen Schock er wohl erlitten hat? Manche können danach nie wieder einen Zug steuern. Meine Betroffenheit kehrte zurück. Darüber hatte ich überhaupt noch nicht nachgedacht. Diesmal wanderten meine Gedanken zum Lokführer, der völlig unschuldig in diese Situation geraten war. Wie man sich wohl fühlt nach solch einem grauenhaften Vorfall?
Was bedeutet dagegen schon eine Verspätung??